Freitag, 27. März 2009

Marx vom Kopf auf die Füße gestellt?

Rezension zu:

Gerhard Hanloser / Karl Reitter
Der bewegte Marx
Eine einführende Kritik des Zirkulationsmarxismus
64 Seiten, 7.80 Euro
ISBN 978-3-89771-486-1
Unrast, 2008


Wie wird heute Marx gelesen? Und wie liest Deutschland Marx? Viele Schnelllektüren in Sachen Marx heben nur auf seine ersten - sehr abstrakten - Kapitel ab. Marx liefert hier allerdings nur Modelle für die Analyse. Leider bewegen sich auch exponierte Marx-Freaks (»Neue Marx-Lektüre«, »Neue deutsche Wertkritik«) hier buchstäblich nicht weiter. Viele Autoren bleiben gerade bei dem Fetisch des Kapitals stehen und bleiben somit an der Oberfläche der von Marx aufgezeigter kapitalistischen Zirkulation. Es ist gerade in Deutschland eine Besonderheit: Man ließt Marx und versteigt sich in Interpretationen, die jede Bewegung vermeidet. Liegt es daran, dass wer sich bewegt, der könnte seine Fesseln spüren?

Anders diese gut lesbare Lektüre: Die Autoren bringen die notwendige Kritik an der verkürzten Leseweise von Marx und damit den ganzen Marx gut auf den Punkt: Marx entwickelte Theoriemodell für das Aufbegehren im Kampf gegen das Kapital. Ohne das Begehren, sich in Bewegung zusetzen, ohne politischen Kampf, ohne "substantiellen Zusammenhang von Erkenntnis und Erfahrung im Klassenkampf" (Christoph Jünke in der Jungen Welt zu diesem Buch), kann man bei der Marxlektüre nicht weit kommen. Die Autoren begründen mit Marx Arbeitsweise beim Schreiben seines Werkes sehr schön, dass die Herrschaftsverhältnisse sehr wohl nicht nur abstrakt sind und von Marx auch nicht allein abstrakt gedacht und betrachtet wurden, sondern konkret. Mit dieser schönen Einführung bewegt es sich besser. Der Titel ist gut gewählt.

Zu empfelen: Rezension: Alles Fetisch - oder was? Von Christoph Jünke.


Kurz:
* Für Leute, die beim x-ten Theoriepamphlet denken, sie müssten in Ohnmacht versingen.
* Nichts für Leute, die glaubten, mit ihrem Crashkurs-Marx im Siebten Himmel der Unberührbaren zu schweben.
* Ein schönes Büchlein, wenn man einen Überblick über geschwurbelte Theorien der letzten Jahre benötigt und nach einem Gegenmittel sucht.

Diejenigen, die erst noch lernen möchte von einer andere Welt zu träumen, denen sei das Büchlein "Kommunismus für Kinder" empfohlen:

Bini Adamczak
Kommunismus
Kleine Geschichte, wie endlich alles anders wird

Interventionen gegen Überwachung

Lesetipp:

Leipziger Kamera - Initiative gegen Überwachung (Hg.)
Kontrollverluste
Interventionen gegen Überwachung
256 Seiten, ISBN 978-3-89771-491-5
Unrast Verlag, Münster, März 2009

Das Buch Kontrollverluste versammelt Beiträge zu Fragen einer emanzipatorischen und praktischen Kritik an der aktuellen Überwachungsgesellschaft. Es führt sehr unterschiedliche Strategien und Perspektiven der linken Überwachungskritik zusammen. Kritische WissenschaftlerInnen, AktivistInnen und Initiativen stellen theoretische, aber vor allem strategische und aktionsorientierte Überlegungen an, reflektieren ihre Handlungserfahrungen und beleuchten Probleme und Potenziale von Bewegung(en) gegen immer mehr Überwachung und Kontrolle.

Die »Leipziger Kamera. Initiative gegen Überwachung« ist seit 2003 in der Stadt des bundesdeutschen Pilotprojekts zur Videoüberwachung öffentlicher Plätze aktiv. Zu ihren Projekten zählen überwachungskritische Stadtrundgänge (seit 2004), das Festival »DEL+CTRL« (2006), die Veranstaltungsreihe »Salon Surveillance« (seit 2007) und Aktionen wie die Verleihung des »Erich-Mielke- Gedächtnispreises« (2003/2005) und das »Making Trouble«-Wochenende (2006) zusammen mit den Space Hijackers aus London.

autoritärer Sozialstaat

Lesetipp:

Gruppe Blauer Montag
Risse im Putz
Autonomie, Prekarisierung und autoritärer Sozialstaat
ISBN 978-3-935936-72-9 | 192 Seiten |
Assoziation A - Hamburg/Berlin, November 2008

Die Hamburger Gruppe Blauer Montag, die ihren Ursprung in den Jobber- und Erwerbsloseninitiativen der 1980er-Jahre hat, zählt zu den wenigen Zusammenhängen der autonomen Linken, die die »soziale Frage« seit Jahren zu ihrem zentralen Thema gemacht hat. Der Übergang von Welfare zu Workfare ist einer ihrer Untersuchungsgegenstände. Anders als die neokeynesianisch orientierte Traditionslinke, aber auch in Abgrenzung zu Vertretern eher neoliberaler Grundeinkommensvarianten stellt die Gruppe den Zusammenhang von kapitalistischem Kommando und Mehrwertabpressung im Produktionsprozess mit der sozialstaatlich regulierten Reproduktion in den Fokus ihrer Kritik. Mit ihren Texten interveniert sie in ein zwischen Autonomen und Linksgewerkschaftern angesiedeltes Debattenfeld um Arbeitsmarkt und Sozialpolitik. Der Blaue Montag formuliert dabei einen lebendigen Einspruch gegen Prekarisierung, Zwangsflexibilisierung und autoritären Sozialstaat.

Vernichtungslager Sobibór

Auslieferung und Prozess gegen den KZ-Aufseher John Demjanjuk

Montag, 16. Februar 2009

Orte, die wir nicht kennen

Interview mit Steffi Holz, Autorin von Alltägliche Ungewissheit
Erfahrungen von Frauen in Abschiebehaft

10 Uhr in Deutschland. Geschafft. Ich erreiche nicht nur meinen Anschlusszug, sondern auch noch einen Sitzplatz im Großraumabteil. Fensterplatz. Mir fehlt noch die Fahrkarte, aber ... aber die kann ich nachlösen. Denke ich. Mein Blick fällt auf zwei Schnauzbart tragende Uniformen am Bahnsteig und eine ratsuchende Frau. Ratsuchend? Die Beamten sehen nicht so aus, als würden sie Auskünfte geben. "Ihre Papiere ..."
Es gibt Orte in unserer Gesellschaft, die wir nicht kennen, die wir nicht besucht haben. Szenen wie diese erinnern mich daran. Was geschieht mit diesem Menschen, der vor meinen Augen kontrolliert wird?

"Alltägliche Ungewissheit" ist das Ergebnis einer Studie, die über einen solchen Ort, den das Berliner Abschiebegewahrsam in Köpenick, schreibt. Die Autorin Steffi Holz ist Ethnologin und mit ihrem Buch haben die Leser_innen die Möglichkeit, etwas über "Frauen in Abschiebehaft" zu erfahren. Die Lektüre überrascht mich sehr, denn meine Vorstellung von Wissenschaft und besonders von Ethnologie, weckten nicht die Erwartungen, mit denen die Autorin mich hier positiv überrascht. Als Wissenschaftlerin besitzt sie ein Handwerkszeug, den erforschten Gegenstand zu hinterfragen, zu analysieren und ihn einer Kritik zugänglich zu machen. Doch hatte ich nicht erwartet, ein so aufklärendes und menschliches, wissenschaftliches und aufhellendes Buch zu lesen. Steffi Holz ist Mitglied der Initiative gegen Abschiebehaft, die Inhaftierte im Berliner Abschiebegewahrsam in Köpenick besuchen und unterstützen. Das Buch vermittelt dabei deutlich, dass Wissenschaft ihre Position kennzeichnen muss, wenn sie kritisch sein will. Und Wissenschaft braucht wie bei Steffi Holz eine solidarische Position, wenn sie nicht den Gegenstand ihrer Untersuchung als Objekt missbrauchen will und – wie so oft – die Betroffenen erneut zu Opfern macht. Wissenschaft kann, wie in diesem Buch, Erfahrungen und Einblicke aus "unbekannten" Orten vermitteln. Dieses Buch mit Fotografien der Dokumentarfilmerin Leona Goldstein liest sich nicht wie die typische Uni-Lektüre und ihr fehlt der Habitus vermeintlich neutraler TV-Stimmungs-Storys. Es ist eine klarer und klärender Einblick in einen Ort, denn ich jetzt aus einer angemessenen Nähe kenne.

Zu der Entstehung ihres Buches heißt es in einem Interview mit der Zeitschrift Lotta:

"Ich habe in Berlin Europäische Ethnologie studiert und wollte in meiner Abschlussarbeit ein kritisches Thema behandeln. Durch ein studentisches Forschungsprojekt hatte ich schon mit Abschiebehaft zu tun und wurde Mitglied der Initiative gegen Abschiebehaft (Ini), die Leute im Berliner Abschiebeknast in Köpenick besucht. Da es, wie in so vielen Untersuchungen auch zu diesem Thema, meist um Männer ging, wollte ich Abschiebehaft ganz bewusst aus der Perspektive von Frauen beschreiben. Die Frage die mich interessiert hat, war die nach ihren Erfahrungen in der Haft. Was passiert dort? Wie sieht der Alltag aus? Was bedeutet es in Abschiebehaft zu sein?
Ich habe dann zwischen 2003 und 2004 dazu geforscht, mit dem damaligen Leiter gesprochen, Einblicke hinter die Kulissen genommen, indem ich an zwei Tagen den Abschiebegewahrsam von innen kennen lernte. Einen Tag durfte ich auf einer der Frauenstationen verbringen. Dort lernte ich zwei der Frauen kennen, um die es in meinem Buch geht. Jessica besuchte ich 7 Monate, Mala 1 Monat. Sie kam kurz danach frei und ich habe noch heute Kontakt mit ihr. Die anderen beiden Interviewpartnerinnen, Victoria und Natascha, wurden mir von der Ini vermittelt. Es war mir sehr wichtig, dass die Frauen entlassen waren, um mit ihnen – wenigstens mit ein bisschen Abstand – über ihre Erfahrungen in der Haft zu sprechen. Außerdem sprach ich mit zwei Mitarbeiterinnen des Sozialdienstes. Die SozialarbeiterInnen im Knast sind Angestellte der Polizei. Diese wissenschaftliche Arbeit habe ich 2006 überarbeitet. Ich habe zusätzlich mit zwei SeelsorgerInnen gesprochen. Die Fotos sind entstanden, weil ich die Fotografin und Dokumentarfilmerin Leona Goldstein kennen lernte, die für ein Projekt über Lebenswirklichkeiten von MigrantInnen auch in Köpenick war."

Das folgende Interview habe ich mit ihr im Dezember 2008 per Email geführt:

q-tipps' Fragen an Steffi Holz

q-tipps: Was haben Frauen, die diese Republik verlassen wollen oder verlassen müssen, verbrochen, dass sie Wochen und Monate wie Strafgefangene behandelt werden?

Steffi Holz: Sie haben keine Papiere, d.h. keinen Aufenthaltsstatus, weil ihre Duldung z.B. nicht verlängert wird. Wenn dann „der begründete Verdacht besteht“ dass sich jemand der Abschiebung entzieht, wird die Haft angeordnet. Geregelt wird sie durch einen einzigen Paragraphen im Ausländergesetz und der „Verdacht“ ist dann schon „begründet“, wenn die Frauen nirgendwo gemeldet sind oder deutlich machen, dass sie auf keinen Fall zurück wollen.
Die Ausländerbehörde beantragt beim Amtsgericht zunächst ein paar Wochen oder Monate, um die Identität zu klären und die Abschiebung zu organisieren. Abschiebehaft ist also eine Verwaltungsmaßnahme! Und diese kann bis auf 18 Monate verlängert werden; meist mit der Begründung die Betroffenen würden nicht mitwirken.
Die Frauen empfinden die Haft als unverhältnismäßige Bestrafung ihrer Passlosigkeit, als wären sie Kriminelle.

q-tipps: Vor welchen Problemen standest du, um dir das Vertrauen der Frauen zu gewinnen, die du portraitiert hast?

Steffi Holz: Das Misstrauen mir gegenüber war völlig verständlich, weil sie mit so vielen Leuten zu tun haben, die ihnen Fragen stellen, ihre Identität klären und sie abschieben wollen. Ich habe deshalb bewusst keine Fragen zu ihrem Weg nach Deutschland gestellt, sondern es ging mir um ihre Erfahrungen in der Haft, darum nachzuvollziehen wie sich die Situation für sie anfühlt, was sie mit ihnen macht und wie sie damit umgehen. Außerdem wussten die Frauen, dass ich mich kritisch zu Abschiebehaft positioniere, also Partei ergreife und sie unterstütze.


q-tipps: Könntest du den Leser_innen ein Portrait vorstellen?

Steffi Holz: Mala, aus Sri Lanka, war drei Monate in Abschiebehaft, weil sie, als sie in Berlin ankam zur Polizei ging und um Hilfe bat. Anstatt ihren Asylantrag weiter zu leiten, kam sie in den Abschiebeknast nach Berlin Köpenick. Dort fand dann zwar ihre Asyl-Anhörung statt, die Ablehnung folgte aber als „offensichtlich unbegründet“ auf dem Fuße.
In dieser Situation haben wir uns kennen gelernt als ich einen Tag lang im Knast auf der Frauenstation sein durfte. Danach habe ich sie regelmäßig besucht und viel von ihren Ängsten und Hoffnungen mitbekommen. Die Situation war sehr belastend für sie und sie reagierte mit Herzrasen und Haarausfall darauf. Ich habe bei Pro Asyl Geld beantragt für eine Anwältin, die nach drei Monaten Haft schließlich ihre Entlassung erreichte und dass das Asylverfahren neu aufgerollt wurde. Leider wurde auch dieses negativ beschieden.
Mala lebt seit inzwischen fünfeinhalb Jahren geduldet in Berlin, weil es einen Abschiebestopp nach Sri Lanka gibt. Alle sechs Monate muss sie zur Ausländerbehörde, um ihre Duldung zu verlängern und die Ungewissheit, ob sie wieder einen Stempel bekommt, begleitet sie jedes Mal. Trotz der ungewissen Zukunft, hat sie sich ein selbständiges Leben hier aufgebaut. Sie konnte nach der Haft vom Asylbewerberheim in eine eigene Wohnung ziehen, hat Deutsch gelernt, eine Ausbildung zur Pflegeassistentin machen können und vor kurzem sogar ihren Führerschein. Sie hat, trotz ihres unsicheren Status sogar eine 30-Stunden-Stelle in einem Altenpflegeheim gefunden, wo sie unbezahlte Überstunden macht und 50 Euro mehr verdient im Monat als sie Sozialhilfe bekam. Die Arbeit ist anstrengend, aber sie hat sich einen Traum erfüllt und hofft weiter darauf, dass sie in Deutschland bleiben kann. Allerdings ist es nach dt. Gesetzgebung fast unmöglich, als Geduldete einen festen Aufenthaltstitel zu bekommen, auch wenn sie schon Jahre hier ist und arbeitet und das ist bitter.


q-tipps: Was bedeutet es, obwohl frau keine Bank überfallen hat oder Anleger um ihre Lebensversicherung betrogen hat, gefangen zu sein und von der Abschiebung bedroht zu sein?

Steffi Holz: Die Ungewissheit und die Unmöglichkeit etwas an der Situation ändern zu können, sind wohl die prägendsten Gefühle der Frauen im Knast. Am Anfang stecken sie viel Energie darin, gegen diese ungerechte Behandlung zu kämpfen, aber je länger sie drin bleiben, desto schlechter geht es ihnen. Sie kommen nicht gegen die Ausländerbehörde an, die sich auch nicht in die Karten schauen lässt. Um die Situation aushalten zu können, brauchen die Frauen Wissen, was passiert und was sie erwarten können. Deshalb sprechen sie untereinander viel über ihre Situation, versuchen sie zu verstehen und zu deuten. Das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden und mit Knast dafür bestraft zu werden „illegal“ zu sein, erschüttert ihren Glauben an so etwas wie Rechtstaatlichkeit und Demokratie.

q-tipps: Du sprichst von einem "System Abschiebehaft". Was macht die Abschiebehaft zu einem "System"?

Steffi Holz: Abschiebehaft ist nicht nur ein Verwaltungsakt der reell Knastalltag bedeutet, sondern auch ein Baustein eines politischen Systems, das auf der Ausgrenzung, Abschreckung und Abschottung von MigrantInnen und Flüchtlingen beruht. In einer ganzen Reihe von Maßnahmen gegen MigrantInnen, wie Residenzpflicht, Gutscheinverpflegung, Arbeitsverbot und „Ausländerrecht“ als ein „Recht“ für Menschen die nicht dazu gehören, ist Abschiebehaft die wohl existenzbedrohendste Erfahrung. Und Abschiebehaft ist nicht nur ein Gesetz, sondern wird in Knaststrukturen umgesetzt und ist insofern tatsächlich ein geschlossenes System, das sich nach außen abschottet und nach innen für die Inhaftierten eine ungewisse Zeit lang zu einer extremen und bedrohlichen Lebensrealität wird. Dieses System zu beschreiben und die Erfahrungen von inhaftierten Frauen darin sichtbar zu machen, ist Anliegen meines Buches.

q-tipps: Was sind die Faktoren, die aus der Abschiebehaft einen totalitären Ort machen?

Steffi Holz: Die Frauen sind der Situation ausgeliefert, bekommen nicht ausreichend Informationen, müssen sich an einen bevormundenden Haftalltag anpassen, werden permanent überwacht und sind ständig von Abschiebung bedroht.


q-tipps
: Unsere Gesellschaft lässt sich nicht als eine sehr solidarische Gesellschaft beschreiben. Wie sieht das unter den Frauen in der Abschiebehaft aus?

Steffi Holz: Die Frauen beschrieben den Umgang untereinander überwiegend als freundschaftlich und solidarisch. Aber natürlich gibt es auch Konflikte, die sie untereinander austragen und meist auch beilegen können.
Die Zahl der inhaftierten Frauen ist allerdings inzwischen stark gesunken, so dass meist nur noch ca. 10 Frauen auf der Station sind. Und mehr Raum für jede Einzelne entspannt auch die Situation insgesamt.

q-tipps: Welche Unterstützung wünschen sich die Frauen in ihrem Widerstand gegen Situation?

Steffi Holz: Die Frauen wollen ernst genommen werden und verstehen, was passiert. Von Widerstand selbst sprechen sie gar nicht, aber jede Einzelne entwickelt Strategien, mit der Situation umzugehen. Und dann gibt es eben auch die gemeinsamen Bewältigungsstrategien, sich zu trösten, Rat zu geben oder Informationen zu teilen, die sie sich von außen besorgen. Insofern nehmen sie die Unterstützung durch Gruppen von außen (die Initiative gegen Abschiebehaft, Pro Asyl, den republikanischen Anwaltsverein, der einmal in der Woche eine kostenlose Rechtsberatung anbietet) sehr positiv wahr.
Besuch ist sehr wichtig für sie, um den Kontakt nach außen nicht zu verlieren. Und wenn mitgebrachte Gegenstände, z.B. Lebensmittel wie Pfeffer oder Kosmetika vom Wachpersonal sehr willkürlich verweigert werden, kann der Besuch durch Beschwerden mehr erreichen, als die Frauen von innen.


q-tipps: Wie geht es den Frauen nach der Haft, wie bewältigen sie die Erfahrungen?

Steffi Holz: Zunächst herrscht Erleichterung und Freude darüber, sich wieder frei bewegen zu können. Aber die drohende Abschiebung bleibt und plötzlich auf sich allein gestellt zu sein, empfinden sie als einen krassen Gegensatz zur bevormundenden Versorgung in der Haft. Sie wissen z.B. nicht, wohin sie sollen, geschweige denn, wie sie mit den öffentlichen Verkehrsmitteln vom Stadtrand ins Zentrum kommen. Einige vermissen ihre Freundinnen in der Haft.
Insgesamt kritisieren sie die Abschiebehaft als ineffektive Maßnahme, denn sie sehen, dass sie nicht abgeschoben wurden (wie übrigens ca. 50% der Inhaftierten nicht). Und auch der abschreckende Charakter von Abschiebehaft funktioniert für einige nicht. Victoria sagte z.B., dass sie dem System so nahe gekommen sei und die Menschen in den Uniformen kennen gelernt hat, dass sie künftig keine Angst mehr vor dem „Polizeistaat“ Deutschland habe.


q-tipps: Mit deinem Buch gelingt es dir, eine Realität sichtbar zu machen. Mein Eindruck ist, dass in dieser Gesellschaft Guantanamo sichtbarer ist. Auch zu Guantanomo gibt es wie zu Abschiebehaft wenig "Wissen" und wenige "Bilder". Wie gelingt es dann dieser Gesellschaft, die Realität und Totalität der Abschiebehaft zu verdrängen?

Steffi Holz: Viele wissen gar nichts über Abschiebehaft, geschweige denn über die Hintergründe oder sie denken es handele sich um Straftäter. Anderen ist es egal. Leider ist es ja ein sehr verbreitetes Phänomen heutzutage, nicht über den eigenen Tellerrand zu schauen.

q-tipps: In der Film-Dokumentation "Let's make Money" - äußert ein Globalisierungs"experte" etwa Folgendes: Die Dienstleistungen, das Geld … können sich unabhängig von den Grenzen frei bewegen, nur die Menschen können das nicht. Er brachte dabei seinen Zynismus zum Ausdruck: man müsse schon etwas geleistet haben, um zu einer Gemeinschaft dazuzugehören, um Mitglied im Club zu sein. Nun zeigte der Film einerseits deutlich, dass diese Globalisierung die Menschen außerhalb der ''privilegierten Clubs'' vor allem ihre gewohnten Lebensgrundlagen, von der Selbstversorgung bis hin zur katastrophalen Zerstörung ihrer Umwelt (Boden, Wasser …), vernichtet und die wenigen Menschen, oft Kinder, die in "Arbeitsverhältnisse" gezwungen werden, die mehr oder weniger offen und deutlich der Sklaverei entspringen, zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben erhalten. Was wird dann tatsächlich von den Frauen erwartet, damit sie Eintritt in den ''Clubs'' erhalten?

Steffi Holz: Der eigentliche Punkt ist glaube ich nicht, wie die Frauen zum „Club“ gehören können, denn sie sind nicht verwertbar, sind z.B. keine Ingeneurinnen, die gerade händeringend in der Wirtschaft gesucht werden, und selbst wenn, könnten sie nie vollwertige Gesellschaftsmitglieder sein, weil das nicht wirklich gewollt ist. Es geht genau um diese kapitalistische Verwertungslogik im heutigen Zeitalter des Neoliberalismus. Das beschreibt der Film ja auch sehr gut. Der freie Fluss von Waren und Geld steht dem Versuch gegenüber, Migrationsbewegungen zu kontrollieren. Dabei verursacht das globale Ungleichgewicht(der Norden lebt auf Kosten des Südens) Migration in hohem Maße. Migration wird einerseits immer gefährlicher und auch die Situation der Wenigen, die z.B. in Europa ankommen, wird immer schwieriger. Deutschland ist mit seiner restriktivsten Ausländergesetzgebung in der EU übrigens Vorreiter für Gesetzesänderungen und- Verschärfungen.

q-tipps: Du bist Ethnologin. Was sagt denn der Wissenschaftsbetrieb dazu, dass seitens einer Ethnologin den deutschen Professoren nicht eine unerschlossene Gesellschaft im Amazonas erschlossen wird, sondern die institutionalisierten Rituale der deutschen Gesellschaft, ihre Globalisierungskrise – Stichwort offne bzw. geschlossene Grenzen – anzugehen?

Steffi Holz: Die Bezeichnung Ethnologie finde ich selber sehr irreführend, denn in meinem Studium der „Europäischen Ethnologie“ in Berlin ging es niemals um „Ethnien“ hier oder anderswo, auch nicht um Europa, sondern im Gegenteil um die De-Konstruktion solcher Begriffe und Herkunft solcher Konzepte; Fragen z.B. wie so etwas wie „Nation“ konstruiert wird. Auch die Fachgeschichte wird längst kritisch aufgearbeitet.
In der Ethnologie werden mit empirischen Methoden (Interviews, teilnehmende Beobachtung) Blicke auf gesellschaftliche Phänomene und Gruppen gelenkt, um sogenannte soziale Praxen und Handlungsstrategien zu untersuchen. Konkrete Themen sind z.B. Stadt, Alltag, Jugendkultur, Migration, Armut... Gesellschaftskritische Themen sind dabei keine Seltenheit. In dieser Hinsicht hatte ich von den Lehrenden volle Unterstützung auch in der kritischen Betrachtung einer deutschen Behörde.


q-tipps: Wissenschaft macht Menschen oft zu ihren Objekten. Konntest du das verhindern? Was muss eine kritische Wissenschaftler_in beachten, damit ihr das nicht passiert?

Steffi Holz: Ich habe mich bemüht, die Frauen nicht als Forschungsobjekte zu sehen und darzustellen. Ich habe mir von Anfang an klar gemacht, dass die Beziehung zwischen mir und ihnen keine auf gleicher Augenhöhe ist und dieses Verhältnis auch im Buch kritisch reflektiert. Denn ich bin mit meinem deutschen Pass privilegiert, während ihr Status ungeklärt ist.
Ich wollte auch nicht einfach Wissen abschöpfen als Forscherin, sondern habe zwei der Frauen in erster Linie regelmäßig als Mitglied der Initiative gegen Abschiebehaft besucht. Das heißt es ging in erster Linie um ihre Situation und darum was ich für sie tun kann, z.B. amtliche Schreiben übersetzen, eine Anwältin besorgen etc. Und aufgenommene Interviews habe ich ganz bewusst nur mit entlassenen Frauen geführt, weil ich es nicht hätte vertreten können, sie in dieser ungewissen Situation zu ihren Gefühlen zu befragen.

q-tipps: Welche Projekte liegen auf deiner aktuellen Tagesordnung?

Steffi Holz: Ich arbeite als freie Journalistin vor allem für den Hörfunk. Anfang 2009 gehe ich z.B. nach Ghana, um zum Goldabbau zu recherchieren, und besuche das afrikanische Filmfestival in Burkina Faso. Ein längerfristiges Thema sind die Auswirkungen von Agroenergie für Europa in Lateinamerika. Und Migration ist und bleibt weiterhin ein wichtiges Thema.


Die Fragen stellte qoc.


Steffi Holz
Alltägliche Ungewissheit
Erfahrungen von Frauen in Abschiebehaft
168 Seiten. 12,80 Euro
ISBN 978-3-89771-468-7
Unrast Verlag, 2007

Freitag, 12. Dezember 2008

Ironie, Montage, Verfremdung. Ästhetische Taktiken und die politische Gestalt der Demokratie

Buchpräsentation mit Anna Schober
13. Februar 2009. Beginn: 20:30 Uhr
Ort: Pro qm
thematische Buchhandlung zu Stadt, Politik, Pop, Ökonomiekritik, Architektur, Design, Kunst & Theorie

Almstadtstraße 48-50
D-10119 Berlin
Pro qm

Das Buch zeichnet die »Erfindung« einer Tradition der Avantgarde quer durch verschiedene historische und regionale Milieus der Moderne und Postmoderne nach.

Der Schwerpunkt liegt auf Beispielen im 20. Jahrhundert: Der Berliner Da­daismus um 1920 oder die Bewe­gungen des europäischen Expanded Cinema und der brasilianischen New Objectivity der 1960er Jahre finden ebenso Berücksichtigung wie neo­avantgardistische Praktiken in den Ländern des ehemaligen Ostblocks seit 1989 oder der zeitgenössischen Anti-Globalisierungsbewegung. Ziel der Untersuchung ist es, einen verän­derten Blick auf Kontinuitäten und In­novationen bezüglich des politischen Gebrauchs von Ironie, Montage oder Verfremdung zu gewinnen.